Prof. Dr. Dieter Röß - Workshop für Firmengründer WS 95/96
Herzlichen Glückwunsch! Mit diesem Brief hat Ihnen Fortuna die Hand gereicht zum sicheren Millionärsdasein. Schicken Sie einen Barscheck über 1000 DM an die oberste Adresse der folgenden Namensliste, streichen Sie diese Adresse und fügen Sie Ihre Adresse unten an. Schreiben Sie den Brief 6 mal ab und schicken Sie ihn an vom Glück wie Sie begünstigte Freunde, damit sie die Glückskette fortsetzen. Millionen werden an Sie gehen, wenn so in kurzer Zeit Ihr Name an die Spitze gerückt ist! Lassen Sie die Kette nicht abreißen! Menschen sind schon plötzlich verstorben, die das Glück der Kette mißachtet haben. Franz Huber Hierher schicken Sie Ihren Barscheck; dann Name streichen Ingrid Schön Franz Haserer Doris Hasenfuß Franziska von Donnermarck Dr. Ludwig Vorndran Simon Olbricht Hans Erdrich Otto von Clever ............................(Ihr Name) Bald werden Sie Mitglied im Klub der Millionäre sein! |
Wir rechnen dieses segensreiche Schema allgemein durch:
Zahl der Namen in der Liste | N |
Vervielfachungsfaktor | B |
Einzelbetrag | A |
Mitglieder in der vollen Pyramide |
Bei A = 1000 und B = 6 erhalten nach naiver Annahme |
|
Der Erste, der die Lawine startet | 1.000 DM |
Die Zweiten je | 7.000 DM |
Die Dritten je | 43.000 DM |
Die Vierten je | 259.000 DM |
Die Fünften je | 1,559 Millionen DM |
... | |
Die Zehnten je | 12,093235 Milliarden DM |
Man sieht, daß ein ankommender Brief mit je 6 Brief-Verteilern und 8 Adressen im Brief angeblich eine bereits vorhandene Lawine von 300.000 Zahlern umfaßt. Bis der angeschriebene Zahler selbst an der Spitze ist, müßte die Gesamtlawine knapp 1011 Teilnehmer umfassen. Warum auch nicht? (Wieviele Menschen gibt es eigentlich?)
Schade und eigentlich ungerecht, daß gerade der Initiator so wenig bekommt!
Was kann er dagegen machen?
Ehrlich kann man übrigens ein solches Spiel gar nicht beginnen!
Man versuche es! Franz Maier startet das Spiel. Die von ihm verschickte Namensliste sieht so aus:
Franz Maier (nach Zahlung streichen) Ihr Name .....(1) |
Wenn (1) den Brief an seine x Adressen schickt, sieht seine Namensliste so aus:
(1) (nach Zahlung streichen) Ihr Name... (2) |
Es käme nie mehr als 1 Name auf die Liste!
Wenn Herr/Frau Schlau einen solchen Brief bekommen, dann könnten sie, bei geeigneter krimineller Veranlagung und ausreichendem geistigen Durchblick, folgendes machen: Sie besorgen sich 10 Deckadressen und ersetzen damit die ihnen zugegangene Liste. Damit startet eine neue Lawine, die alles in ihr Konto schleust.
Ich habe eine Reihe von Bekannten gefragt, ob sie je an eine solche Möglichkeit gedacht hätten. Keiner hatte sie erkannt und sie wurde übereinstimmend als "unmoralisch" oder "betrügerisch" bezeichnet.
Da es jedem denkenden Menschen auch ohne Spieltheorie und Rechnung klar sein muß, daß bei einem Lawinensystem irgend jemand (genauer viele irgendjemande) betrogen wird (man vermutet, diejenigen am Ende der Lawine, deshalb muß man auch ganz schnell dabei sein), ist es immerhin amüsant, daß hier mit moralischen Wertungen argumentiert wird.
Alle von mir Angesprochenen wußten von Kettenbriefen, behaupteten aber, nie an einem Kettenbrief teilgenommen zu haben. Sie waren überrascht von folgender ihnen vorgelegten Idee: den Kettenbrief zwar weiterzuschicken, aber selbst kein Geld abzusenden. Das erschien ihnen unmoralisch, wenn auch nicht ganz so verwerflich, wie die oben beschriebene Usurpation des Systems durch Schlau.
Wahrscheinlich spielt bei dieser Haltung eine Rolle, daß alle selbst abgesandten Briefe an persönliche Bekannte gingen, denen gegenüber man sich zu "Ehrlichkeit" verpflichtet fühlt. Tatsächlich erweist man aber mit dem Abschicken von Geld "Ehrlichkeit" gegenüber dem Mann an der Spitze der Pyramide, also jemandem, den man überhaupt nicht kennt (und der nach unserer Analyse so gar nicht existiert), während man seine Bekannten durch das Vorgaukeln einer trügerischen Gewinnchance ganz klar betrügt.
Keiner der Angesprochenen hatte erkannt, daß ein wie oben professionell angelegter Kettenbrief niemandem, außer dem Initiator etwas bringt, daß also alle Teilnehmer betrogene Betrüger sind.
Zur Zeit 7 läuft im Raum Aschaffenburg ein Kettenbrief, mit einer Einzahlung von 1000 DM und 6 Adressen plus Absenderadresse! Von unseren Bekannten, die angesprochen wurden, hat einer teilgenommen; den anderen war der Betrag zu hoch. Bei einigen Hundert DM hätten mehrere teilgenommen.
Das Phantastische am Kettenbrief ist die hohe Motivation jedes einzelnen Betrogenen (der noch nicht weiß, daß er betrogen ist und dies vielleicht nie erkennt; er meint, ein Unseliger habe die Kette abreißen lassen), die ihn hartnäckig weitere Opfer suchen läßt, so daß es gar nichts ausmacht, wenn wegen der Höhe der Einzahlung weitere Teilnehmer schwer zu finden sind.
In der Bundesrepublik werden Veranstalter von Kettenbriefen grundsätzlich strafrechtlich verfolgt.
Ende